Wer an Engel glaubt…

 (v. Nati Merlin)

 
 
Eine eisig kalte Nacht war übers Land gezogen und der Winter hatte die Welt mit einem dicken weissen Kleid bedeckt. Als ich an jenem Morgen zum Fenster hinaus schaute, erfreute mich der Anblick dieser verzauberten Winterwelt und ich konnte mich an dieser herrlichen Pracht gar nicht satt sehen. Alle Bäume, Sträucher und Büsche sahen aus, als wären sie über Nacht ganz dick mit Puderzucker bestreut worden. Die Sonne lugte matt durch die dünne Wolkendecke und zauberte eine Glitzerwelt in die Schneelandschaft. Mit offenen Augen träumte ich mich in dieses wunderschöne Winterbild hinein. Dabei erwachten viele Kindheitserinnerungen, der Wintertage, wo es endlich geschneit hatte und an die Zeit, wo es nach so einem heftigen Wintereinbruch Schneefrei oder gar Kältefrei gab. Es bot sich für uns damals nichts Schöneres an, als mit dem Schlitten hinauszuziehen, um am Waldrand den Abhang hinunter zu rodeln. Der Rodelberg war bevölkert von Alt und Jung und ein Jeder frönte seinen Wintersport, die jungen Burschen meistens auf Skiern und wir Mädchen auf unseren Schlitten. Erst am Abend, wenn die Dämmerung die heran kriechende Nacht ankündigte, ging es wieder heimwärts. Hunger und Kälte kannte man nicht, oder besser gesagt, sie konnten einem nichts anhaben, denn die Zeit da draussen auf der Rodelbahn verflog in Windeseile. Mit rot gefrorenem Gesicht und oftmals vor Kälte kribbelnden Händen kam man dann zu Hause an. Die Hosen waren klatsch nass vom getauten Schnee und manches Mal hielten selbst die dicken Stiefel der Feuchtigkeit nicht stand, sodass es nasse Socken und Füsse gab. Die Füsse steckte man flugs in ein von der Mutter hergerichtetes Fussbad und die nasse Bekleidung kam über den Kohleofen zum Trocknen. Wenn unsere Sachen über dem Ofen hingen, glaubte ich immer, dass wir den Duft des Schnees mit heimgebracht hatten. Oh, wie herrlich schmeckte dann beim Abendessen nach unserer ausgedehnten Schlittenfahrt das dicke Wurstbrot. Vor allem der heisse Kakao tat ganz besonders gut. Eine wundersame Müdigkeit machte sich alsbald in uns „Wintersportlern“ breit und wohlig kroch man zu zweit oder zu dritt in das von der Wärmflasche vorgewärmte Bett unter die Decke und träumte schon beim Nachtgebet, noch vor dem Einschlafen, vom nächsten Tag.
Wo war diese Zeit geblieben? Wieder einmal war mir klar, dass Zeit wie Sand durch unsere Hände rinnt.
Herrliche Winterwelt, doch es gibt kein Schnee- oder Kältefrei mehr für mich. Und dieser Gedanke brachte mich wieder auf den Boden der Tatsachen zurück.
Die Firma rief und es war schon recht spät an diesem Morgen.
Ich musste mich beeilen, denn ich hatte obendrein vor Arbeitsbeginn noch einen wichtigen Termin in der Stadt. Ruck zuck einen Kaffee getrunken und dann nichts wie los, im Eiltempo zur Busstation. Trotzdem ich in grosser Eile war, genoss ich diese erfrischend klare Winterluft und die weisse, glitzernde Pracht auf meinem Weg zur Bushaltestelle der mich durch eine Parklandschaft wie aus dem Bilderbuch führte.
 
An der Bushaltestelle warteten schon mehrere Fahrgäste auf den Bus, der uns in die Stadt bringen sollte. Die Menschen schienen sich allesamt über den heftigen Wintereinbruch zu freuen, denn der Schnee brachte doch erst die richtige Stimmung und erhöhte die Vorfreude auf das Weihnachtsfest, welches vor uns lag. Ich musste gar nicht mehr lange warten und da sah ich auch schon den Bus um die Ecke rollen. Der Fahrer hatte wirklich sein tun, um dieses grosse Gefährt auf der glatten, vereisten Fahrbahn zu halten. Plötzlich ging alles viel zu schnell, als dass ich es in Einzelheiten schildern könnte. Ich sah, wie der Bus mit rasender Geschwindigkeit auf uns zu schlitterte. Panik, ein fürchterlicher Schrecken, durchfuhr mich, denn der Bus kam geradewegs auf mich zu. Ich konnte in dem Moment irgendwie gar nicht reagieren, ich war wie gelähmt und erstarrt, einfach handlungsunfähig ob des Schreckens der Rutschpartie dieses riesigen Ungetüms von Bus. Plötzlich riss jemand mit festem Griff an meinem Mantel. Mir wurde seltsam heiss und ein Kribbeln wie Strom, ein nie dagewesenes Gefühl durchzog meinen Körper. Ich fühlte mich auf einmal trotz allem, was geschah, so wohl und sicher, obgleich ich mich doch in dieser lebensgefährlichen Situation in befand. Mir war, als sei es gar nicht ich, die in diesem Ablauf des Geschehens verwickelt ist. Schliesslich spürte ich noch einen heftigen Ruck mit dem ich zur Seite gerissen wurde. Verwundert ob des heftigen Griffs in meinem Mantelrücken, drehte ich mich um und vor mir stand diese Frau, die noch immer meinen Mantelärmel fest in ihren Händen hielt. Zu meinem Erstaunen stellte ich fest, dass sie gar nicht die Kraft haben konnte, die sie angewendet hatte, um mich zur Seite zu reissen. Sie war unglaublich klein und zierlich, reichte mir gerade mal bis an die Hüfte. Sie lächelte mich ohne ein Wort mit einem liebevollen, aber merkwürdigen Blick an und es war mir, als würde mein Körper nun von einem hellen und warmen Licht durchflutet. Mir war diese Frau fast ein wenig unheimlich und überhaupt, die ganze Situation war mir, obwohl es nicht mein Verschulden war, auch irgendwie richtig peinlich. Am liebsten wäre ich im Erdboden versunken. Dabei hätte ich lieber von Glück reden sollen, dass ich überhaupt noch auf meinen beiden Beinen stand und nicht schwer verletzt, wenn überhaupt noch lebend, unter dem Bus lag. Ich hörte die aufgeregten Menschen wild durcheinander reden und als ich meinem Blick wieder nach vorne wandte, sah ich den Busfahrer, der inzwischen aus dem Bus gestiegen war. Irgendwie hatte er den Bus zum Stehen gebracht. Er hatte einen hochroten Kopf und ich sah, wie ihm die Schweissperlen von der Stirn ins Gesicht kullerten. Ganz offensichtlich stand auch er unter Schock. Verlegen und mit zittriger Stimme stammelte er eine Entschuldigung. Doch es war uns allen klar, dass dieser „Beinahe-Unfall“ nicht sein Verschulden war, sondern vielmehr den winterlichen Strassenverhältnissen zu zuschreiben war.
Er sah mich an und meinte, ohne diesem Schutzengel hinter mir wäre es ganz sicher zu einer entsetzlichen Katastrophe gekommen. Nur ihrem beherzten Eingreifen sei es zu verdanken, dass nichts passiert sei und ich alles unbeschadet überlebt hätte. Ich spürte, dass mich die Frau während des Gesprächs mit dem Busfahrer losgelassen hatte.
Ja, wirklich, meine Güte, so schoss es mir durch den Kopf. Was wäre passiert, wenn diese Frau hinter mir nicht so mutig eingegriffen hätte? Wahrscheinlich läge ich jetzt schwer verletzt oder gar tot unter dem Bus.
 
Mit diesen Gedanken drehte ich mich zu ihr um, denn ich wollte meine Dankbarkeit für ihr rasches Eingreifen zeigen. Tiefempfundene Dankbarkeit spürte ich in mir und es stiegen Tränen in meine Augen. Die Frau hatte mir buchstäblich das Leben gerettet. Ich musste dieser Frau danken und ich wollte ihr etwas ganz besonders Gutes tun. Das bin ich ihr schuldig, dachte ich, denn sie hatte mit ihrem eingreifen, dafür gesorgt, dass ich unversehrt und lebendig auf meinen beiden Beinen stand.
Ich schaute in die kleine Menschenmenge hinter mir, aber wo war die Frau nur? Komisch, nirgends konnte ich sie sehen. Sie konnte doch in diesem kurzen Augenblick nicht einfach wie vom Erdboden verschwunden sein. Es waren vielleicht nicht einmal fünf Minuten seit diesem Vorfall vergangen und vor wenigen Sekunden fühlte ich noch ihre Hand auf meinem Arm. Ich fragte einige der wartenden Fahrgäste, ob sie gesehen haben, wohin die Frau gegangen sei, doch niemand schien gar von ihr Notiz genommen zu haben.
In meinem Kopf begann sich alles zu drehen und ich musste mich für einen Moment auf die Bank im Buswartehäuschen setzen.
Ich wollte jetzt allein sein und nur noch nach Hause. Mit meinem Handy rief ich in der Firma an und meinen Termin in der Stadt sagte ich auch ab. Einen Moment noch blieb ich auf der Bank sitzen, in der Hoffnung, die Frau, die mir das Leben gerettet hatte, würde zurück kommen.
Aber sie kam nicht mehr. Der Bus war inzwischen mit grosser Verspätung zu seinem Ziel in die Stadt unterwegs und ich begann zu frieren. So machte ich mich in tiefen Gedanken versunken, ob dieses schrecklichen Ereignisses, auf den Nachhauseweg.
 
Als ich bei einem heissen Tee gemütlich in meinem Sessel sass, ging mir das ganze Geschehen noch einmal durch den Kopf und plötzlich war sie wieder da, diese Frau die mich so geistesgegenwärtig vor dem Schlimmsten gerettet hatte.Vor meinem geistigen Auge tauchte sie klar und deutlich auf und nun bekam ich wieder diese Gänsehaut und dieses Gefühl, welches sich schon an der Busstation in mir breit machte, spürte ich auch wieder tief in mir. Es erregte und ergriff mich in höchstem Masse.
Nein, es gab keinen Zweifel, es war diese Frau, die mich zurück gerissen und mir damit das Leben gerettet hatte! Ich erkannte sie sofort wieder,  ganz deutlich erschien sie vor meinem geistigen Auge. Wie konnte das sein? Gab es das wirklich? Sicherlich stehe ich noch unter Schock, wollte ich diesem Geschehen entgegen wirken und mich selbst zur Vernunft bringen. Ich war alleine im Zimmer, das wusste ich doch ganz genau. Doch die Frau wollte nicht vor meinem Gesicht verschwinden. Dann lächelte sie mir augenzwinkernd und gütig zu, so als wollte sie mir etwas Liebevolles sagen. Erneut versuchte ich diese Frau aus meinem Gedächtnis zu verbannen, so was gibt und gab es nicht, dass musste Hokuspokus sein. Plötzlich veränderte diese frau ihr Aussehen. Sie verwandelte sich zu einem wunderschönen Engel, so wie ich sie aus Märchenbüchern und vielen anderen Abbildungen kannte. Nun bin ich wohl ganz verrückt, dachte ich beunruhigt.
Vollkommen erschrocken fuhr ich plötzlich zusammen, denn das Klingeln der Haustürglocke holte mich aus einem nie gekannten Zustand in die Wirklichkeit zurück.
Ich rannte förmlich zur Tür, aber als ich sie öffnete, stand niemand davor. Blöder Klingelstreich der Nachbarkinder, dachte ich fast wütend und drehte mich um, um wieder ins Zimmer zu meinem Tee zurückzukehren. Noch während ich mich zum Eingang wendete sah ich auf einmal einen kleinen Zettel auf dem Fussboden liegen. Na, was sollte denn dass, der Briefkasten hing doch unmittelbar neben dem Knopf der Türglocke? Geistesgegenwärtig hob ich den Zettel auf und verwundert lass ich was darauf geschrieben stand:
„ Nur wer an Engel glaubt, wird ihnen auch begegnen…“
 
In diesem Sinne
herzlichst Nati Merlin
 
 
 
 
 
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