Alles hat seine Zeit…
 
Ach“, sagte die alte Schildkröte seufzend, als sie auf einem grünen Wiesenstreifen im Park, von ihrer langen Wanderung ausruhte und nach oben blickte, zu der kleinen Amsel, die dort auf der Lehne einer alten, hölzernen Parkbank sass. „Mach langsam Alte, du hast doch alle Zeit der Welt, dir wird schon nichts davon laufen“ begrüsste die kleine Amsel die alte Schildkröte mit einem ironischen Unterton. „Ach, du kleine Amsel, was weisst du schon von der Zeit? Du kannst vielleicht schneller fliegen, als dass meine müden Beine mich in meinem schweren Panzer davon tragen, aber, ich gehe meine Wege halt besinnlich und ich erfreue mich bei meinen gemächlichen Wanderungen ausgiebig an den Köstlichkeiten der Natur rings um mich herum. Ich gönne mir Zeit, viel Zeit, um sehend durch die Welt zu gehen.“„ Tja, aber trotzdem bin ich schneller als du und du kannst nicht so hoch am Himmel fliegen wie ich und du siehst längst nicht soweit, wie ich bei meinen Flügen sehen kann“ antwortete die kleine Amsel keck und herausfordernd. „Und ausserdem komme ich viel weiter in der Welt herum, als du.“ „ Na und, “ entgegnete die alte Schildkröte gelangweilt „ist es denn wirklich so wichtig, ob man hoch hinaus fliegt und weit umher kommt in der Welt? Bist du dir so sicher, dass du tatsächlich mehr siehst als ich? Wichtig ist einzig, jeden Augenblick deines Lebens zu spüren, zu geniessen und wirklich sehend deine Zeit zu leben, egal, wo du dich befindest. Das Leben ist kurz und da gibt es keine Weite. Ach, du bist nur ein Naseweiss mein kleiner Freund und niemals wirst du so viele Lenze erleben, wie ich sie bereits erlebt habe. Mag sein, du fliegst hoch hinaus und siehst sehr viel, vielleicht weiter als bis zum Horizont, aber das heisst nicht, dass deshalb auch dein eigener Horizont weit ist. Man muss nicht hoch hinaus fliegen, denn das Wahre ist oftmals direkt neben dir, es ist einfach und schön, nur, du musst es auch sehen.“ „Reg dich doch nicht so auf, du liebe alte Schildkröte" schmeichelte die Amsel. "Ich bin halt ein fröhlicher Gesell, ich liebe das Leben und ich möchte fliegen, fliegen, immer nur fliegen und all die Herrlichkeiten entdecken, die mir das Leben zu bieten hat“. Und schwupps, flog die kleine Amsel übermütig mit den Flügeln schlagend, hoch in den blauen Sommerhimmel.
 
Die alte Schildkröte schaute ihr noch lange kopfschüttelnd und sinnierend nach, so lange, bis die kleine Amsel im tiefen Blau des strahlenden Sommerhimmels nicht mehr aus zu machen war. Der Himmel hatte die kleine Amsel buchstäblich in sich aufgesogen.„Was weiss so ein kleiner Vogel überhaupt von Zeit? Welche Bedeutung hat Zeit für so ein kleines Feder und überhaupt… was das Leben zu bieten hat…?“, wiederholte sie bei all ihren Überlegungen den letzten Satz der Amsel. Was nützt es, wenn du nicht siehst, was das Leben zu bieten hat, es nicht geniesst, weil du deine Zeit nicht richtig nutzt. Naja, eines Tages werden auch deine Flügel gestutzt, leider mein kleiner Freund, aber so ist das wahre Leben, dachte die Schildkröte weiter, als sie der Amsel fast ein wenig wehmütig nachschaute. Ach, ich will jetzt nicht mehr nachdenken, ich  bin zu müde und möchte mich nur  ein wenig ausruhen, dachte die Alte weiter, ich hab es auf meine alten Tage nicht mehr eilig. Ich habe Zeit, alle Zeit der Welt. Ich will die Zeit, die mir noch bleibt, geniessen und mich an meiner Zeit erfreuen, mit ganzem Herzen. Heute ist heute und morgen ist morgen. Heute lebe ich und wer weiss, was morgen ist. So will ich Tag für Tag leben, bewusst leben, nur darin allein liegt mein Glück. Ich kann doch nur Glück empfinden, wenn mir bewusst ist, dass nur das Heute zählt. Das was ich heute erlebe, das ist mein wahres Leben, jetzt und hier – vielleicht gibt es mich morgen gar nicht mehr? Mich an allem freuen, alles bewusst erleben, was mir heute begegnet, was ich heute noch vor mir habe, das ist Glück. Menschen suchen so oft nach ihrem Glück, dabei liegt es in ihren Seelen allein, ob sie das Glück sehen und spüren, welches sie umgibt. Sie müssen es nicht suchen und finden, sie müssen es einfach nur sehen und empfinden. Doch sie können vielmals die Vergangenheit nicht loslassen und grübeln ängstlich darüber nach, was die Zukunft ihnen wohl bringt, damit nehmen sie sich Lebensfreude und verschwenden die Zeit der Gegenwart. Es weiss doch niemand, ausser unserem Schöpfer, ob es überhaupt noch ein Morgen  gibt, ob uns noch Zeit genug für alle das bleibt, wovon wir träumen, was die Zukunft vielleicht bringt. Das Einzige, was man weiss, ist doch die Tatsache, dass man jetzt, also heute lebt und nur darin liegt das wahre Glück, denn nur diese Zeit, das Heute ist wichtig, das ist unser wahres Leben.

So in Gedanken versunken, zog sie schnaufend ihre müden Beine in den dicken Panzer zurück und schaute aus ihren halbgeöffneten Augen hinüber zur Wiese, wo Kinder fröhlich und ausgelassen mit einem kleinen Hund umher tollten. Erinnerungen an vergangene Zeiten wurden bei diesem Anblick in ihr geweckt und so rutschte sie mit ihren Gedanken noch einmal in die Vergangenheit zurück. Es waren Erinnerungen an eine Zeit, als sie noch viel, viel jünger war und mit ihren Geschwistern im Gras spielte. Und Erinnerungen an etwas später dann, an ihre eigenen Kinder, wie sie sie auf ihren Panzer durch die Welt trug, um ihnen zu lehren, was gut und richtig und wo Gefahren lauerten. Auch sie waren einst so ausgelassen, wie die Kinder dort drüben auf der Wiese mit dem Hund, eben nur ganz anders, so auf ihre Weise, so, wie halt Schildkrötenkinder spielen. Sie dachte daran, wie sie sie ein Stück ins Leben begleitete, bis sie sie eines Tages verliessen und sich auf den Weg in ihr eigenes Leben machten. Wo war nur diese Zeit geblieben?
 
Na ja, so ist das Leben, bei Tieren und bei den Menschen ist es gleich. Ich will aber nicht an der Vergangenheit festhalten, ich bin heute zufrieden und glücklich, denn ich lebe und darf erleben, was jetzt in diesem Moment um mich herum geschieht, dachte die Alte. Eben, alles hat seine Zeit! Was in diesem Moment geschieht, ist im nächsten Moment schon nicht wiederkehrende Geschichte. Alles hat seine Zeit, Leben und Sterben, Lachen und Weinen, die Jugend, das Alter. So sinnierte die Schildkröte andächtig und beobachtete dabei die spielenden Kinder drüben auf der Wiese. Oh ja, dachte sie weiter, Kinder sind die Früchte der Liebe und sie gehören uns nur eine kurze Zeit. Eines Tages sind sie gross und gehen den Weg in ihre eigene Zeit. Plötzlich spürte sie, dass sich hinter ihrem Rücken etwas ziemlich schnell und raschelnd bewegte. Als sie ihren Kopf aus den Panzer streckte, um zu schauen, was dort hinter ihrem Rücken vor sich ging, sah sie einen jungen Mann, der recht stürmisch die Parkbank aufgesucht hatte. Er schien in grosser Eile hierhergekommen zu sein und er liess sich nun völlig ausser Atem und ein wenig erschöpft auf die Bank fallen. Gähnend reckte er seine Glieder und mit ausgestreckten Beinen, lehnte er sich schlussendlich an die Lehne der alten Bank. Er streckte sein Gesicht der Sonne entgegen und schloss er für einen kurzen Moment seine Augen.
Bald schon kam ein junges Mädchen auf ihn zu und sie begrüsste ihn sichtlich überglücklich vor Freude mit einem zärtlichen Kuss. Fast erschrocken, ob der stürmischen Begrüssung, setzte sich der junge Mann aufrecht hin, denn er harrte ja noch immer mit verschlossenen Augen, als das Mädchen kam. Auch er war voller Freude, das junge Mädchen zu sehen. Sie umarmten sich leidenschaftlich und blieben dann schweigend eine Weile engumschlungen bei einander sitzen.
Sie schienen ihr Glück schweigend zu geniessen. Oh ja, dachte die alte Schildkröte bei diesem Anblick, Liebe braucht keine Worte, Liebe braucht Zeit, Zeit zum Träumen, Zeit um zu gedeihen, Zeit um Gefühle leben zu lassen.
 
Und wieder küssten sich die beiden jungen Leute auf der Parkbank und nach diesem Kuss begannen sie einander von ihren Erlebnissen des Tages zu erzählen. Fröhlich sprachen sie von all ihren vielen Plänen, die noch vor ihnen lagen. Nicht planen, dachte die alte Schildkröte, einfach die Dinge so nehmen, wie kommen und aus allem das Beste machen. Im Hier und  Jetzt leben, denn es dauert eh alles nur eine Zeit, so wie der Himmel sie für jeden und alles bestimmt hat.  Das junge Paar steckte noch voller Lebensfreude und zum Glück war es so, denn dem Alter nach waren sie wohl gerade mitten im Frühling und sie hatten den Sommer und auch den Herbst noch vor sich. Es dauerte nicht lange, da gesellte sich ein sehr alter Mann zu den Beiden. Sein Gesicht hatte tiefe Furchen und man konnte in seinen trüben, müden Augen lesen, dass das Schicksal ihm im Verlauf des Lebens viel geboten hatte. In gebückter Haltung stand er fast ein wenig verlegen, seitlich zur Bank. Man merkte ihm an, dass er zweifelte, ob er sich hier, bei dem verliebten Paar, wohl ein wenig ausruhen dürfe. Schliesslich überwand er seine Scheu und fragte das junge Pärchen höflich, ob es recht sei, wenn er sich für einen kleinen Moment auf der Bank nieder liesse, um sich ein wenig auszuruhen. Das junge Paar lud den Alten ein, sich zu ihnen zu setzen und. Die beiden Jungen verstummten und man sah ihnen an, wie verwundert, fast ungeniert, sie den Alten, anstarrten und musterten. Der Alte spürte dieses natürlich. „ Ja, ihr dürft mich ruhig anschauen, “ sagte er darauf hin mit zittriger Stimme, „ bei mir hat der Herbst längst Einzug gehalten, der Winter ist nicht mehr fern. Die Stürme des Lebens haben an meinem Gebälk gezerrt und den harten Stein in mir geschliffen. Dem Mann mit der Sense bin ich mehr als einmal begegnet, doch er gab mir immer wieder eine kleine Schonfrist, noch ein kleines bisschen Zeit, aber er hinterliess doch schon  seine Spuren in meinem Gesicht“. “Nein, nein, “ antwortete das junge Mädchen „ nichts für ungut, wir wollten so wieso gerade gehen, wir haben es eilig.“ Bei diesen Worten stiess sie dem jungen Mann neben sich  mit ihrem Ellenbogen zaghaft in die Seite, um seine Zustimmung zu erlangen. „Ja, ja, wir sind im Begriff zu gehen, sie können ruhig hier sitzen bleiben, wir sind sehr in Eile“ pflichtete der junge Mann seiner Freundin eilig bei. Die alte Schildkröte lächelte und dachte, es ist schon seltsam, wie jung und alt oft mit einander umgehen. Schon oft genug hatte sie das hier bei der Parkbank erlebt. Immer laufen die Jungen den Alten davon, warum nur ist das so, dachte die Schildkröte, liegt im Alter nicht die Weisheit verborgen? Erschrocken drehte die Schildkröte ihren Kopf langsam zur Seite, denn plötzlich raschelte es wieder im Gebüsch.
 
Und da sah sie ihren kleinen Freund, die Amsel, die von ihrem Flug zurück gekehert war und sich gerade ziemlich unwirsch auf ein dünnes Zweiglein niederliess. „ Ach, du bist es, “ sagte die Alte ein wenig spöttisch - „ na, bist du  nun weit gekommen, bei deinem Höhenflug?“ “ Och, na ja, wie man es nimmt, ich habe viele bunte Wiesen gesehen, hohe Berge und überall Menschen, die warum auch immer, um ihr Leben rannten “ antwortete die Amsel ein wenig aus der Puste.„ Nein, nein, die Menschen rennen nicht immer um ihr Leben, sie tun meistens nur so als ob. Niemand kann um sein Leben rennen, lachte die Schildkröte. „ Die Menschen hasten immer so, daran wirst du dich noch gewöhnen müssen, ich bin um einige Lenze länger unter ihnen, doch verstehen werde ich sie diesbezüglich niemals.“„Wie meinst du das?“ fragte die Amsel erstaunt und neugierig geworden. Die Schildkröte holte tief und lange Luft, streckte ihren Kopf noch weiter aus dem Panzer, um der Amsel in die Augen zu sehen und dann begann sie, ihr weiter zu erklären: „ Na ja, die Menschen sind einfach so, sie rennen und hasten, als könnten sie damit Zeit gewinnen, doch im Grunde genommen, gewinnen sie nicht eine Sekunde mehr an Zeit, denn ihre Zeit ist bemessen, sehr bemessen sogar. Es ist völlig egal, ob sie schnell oder langsam durch ihr Leben eilen, es geschieht das, was der Schöpfer für sie vorgesehen hat. Im Gegenteil, würden sie sich für alles nur ein wenig mehr Zeit nehmen, dann könnten sie die schönen Seiten des Lebens und die wunderbaren Dinge, von denen sie umgeben sind, wirklich wahr nehmen und alles viel mehr geniessen. Aber nein, es heisst bei den Menschen immer nur, schnell, schnell und sie gewinnen dabei nichts an Zeit. Nein, im Gegenteil, sie verlieren in ihrer Eile sogar kostbare Zeit, weil sie in ihrer Eile die Zeit zum Leben verlieren. Nur ist ihnen das leider nicht bewusst.“ “Hm... na ja, so ganz kann ich dir nicht folgen, so ganz verstehe ich das nicht, was du meinst, bin wohl noch zu klein dafür, aber, hat man nicht viel mehr vom Leben, wenn man sich ein bisschen beeilt, es gibt doch so viel Zeit?“ sinnierte die Amsel. Nun erst sah auch die Amsel das junge Pärchen und den alten Mann auf der Parkbank. Sie blinzelte die Schildkröte schelmisch an: „ Die dort scheinen aber nicht zu hasten, die haben wohl alle Zeit der Welt? Sie haben wohl mehr vom Leben?“ meinte die Amsel recht ironisch, mit einem Lachen im Gesicht. „ Lach nur über mich“ sagte die Schildkröte, „ mach dich ruhig lustig“ doch ihre Stimme klang weich und fast ein wenig zärtlich. Mit ihren Worten erinnerte sie sich an ihre eigene Jugend, wie lebenslustig und unbefangen auch sie einst war. Sie durchzog in ihrem Leben viele Lehren und mit der Zeit lernte sie, die Dinge etwas anders zu sehen. Dann verstummten die Amsel und die Schildkröte schliesslich, ob der Stimme des alten Mannes und beide lauschten nun interessiert dem Gespräch des Alten und des jungen Pärchens, die sich in ein nettes Gespräch verfangen hatten.
 
Die Worte des alten Mannes machten auch die junge Amsel ein wenig nachdenklich und die alte Schildkröte nickte bei jedem Wort, das aus dem Mund des alten Mannes kam, zustimmend mit einem gütigen und weisen Lächeln im Gesicht, zur Amsel hinauf.„Ihr habt keine Zeit?“  fragte der Alte das junge Paar. „ Gerade ihr solltet euch Zeit nehmen, wenn ihr meint, dass ihr sie nicht hättet! Was ist Zeit für euch? Was ist Leben? Leben ist Zeit, eine kurze Zeit auf  Erden. Was ist ein Tag, was ein Monat, was ein Jahr? Zeit ist einzig das, was ihr daraus macht, Zeit ist nur eine Ermessenssache des Menschen. Zeit ist Licht und Schatten, mehr nicht, der Hauch des Windes, wenn er über die Wiesen weht. Was bedeutet schon eine Stunde? Eine einzige Stunde kann manchesmal so kurz sein, wie eine tausendstel Sekunde und eine Tausendstel Sekunde kann euch so lang vorkommen, wie ein ganzer Tag oder mehr noch eine Ewigkeit. Eine Tausendstel Sekunde kann euer ganzes bisheriges Leben im Nu umkehren. Bedenkt, Zeit messen, ist bedeutungslos, wer will und wer kann Zeit wirklich bemessen? Aber was ihr selbst aus der für euch so kostbaren Zeit macht, dass ist von grösster Bedeutung, denn darin liegt euer ganzes Glück und das Einzige, was im Leben wirklich zählt. Wenn ihr die euch geschenkte, kostbare Zeit richtig nutzt, dann kann sie euer wahres Glück und eure Zufriedenheit bedeuten. Lasst euch Zeit für das Schöne im Leben und solltet ihr es hier auf der Parkbank finden, so nehmt es an und geniesst die Zeit, noch ist Frühling für euch, doch schnell wird es Herbst, seit euch dessen immer bewusst. Oh nein, habt es jetzt nicht eilig, ihr müsst meinetwegen nicht davon eilen! Geniesst den Moment eures trauten Beisammenseins, es wird nicht immer so sein. Seit froh, dass ihr den jetzigen Moment habt, kostet ihn aus, morgen schon kann alles anders sein. Zeit verändert sich so, wie der Himmel es für die Zeit eines jeden Einzelnen vorgesehen hat“, erklärte der Alte den beiden Verliebten.  Mal schaute der Alte den jungen Mann dabei in die Augen und mal dem jungen Mädchen, so, als könnte er ihnen seine Worte mit diesem Blick tief in die Seele hauchen.  Ja, so wird es sein, dachte sich die Schildkröte, er schaut ihnen ganz bestimmt in die Seele, da bin ich mir sicher, denn die Augen sind immerhin der Spiegel der Seele, darin sieht man viel und sicher will der Alte von seiner Weisheit, dort in der Seele der beiden Jungen, etwas zurück lassen, vermutete sie. Das junge Mädchen war wie in den Bann gezogen von der ruhigen Stimme und der Weisheit des Alten, doch auch der junge Mann lauschte den Worten des Alten sehr aufmerksam. „Oh ja, ich rate euch, nehmt euch einfach Zeit um zu geniessen, dennkt nicht immer nur an Eile und an Arbeit, es ist falsch zu hasten. Das Leben ist zu kostbar und viel zu kurz und als Gott die Zeit erschuf, hat er von Eile nie etwas gesagt. Noch ehe ihr euch bewusst seid, wie vergänglich alles ist, liegt bereits die längste Zeit eures Daseins hinter euch und nicht eine tausendstel Sekunde könnt ihr von der vergangenen Zeit zurück bekommen. Das Leben vergeht viel zu schnell, so rasch, wie die Jahreszeiten. Vom Frühling zum Sommer, vom Herbst zum Winter, vom geboren werden, um zu leben und zu leben, um zu sterben. Glaubt mir, ich weiss, wovon ich rede. Es gibt eine Zeit der Liebe und eine Zeit der Trauer - doch so wie die Liebe euch wieder genommen wird, wird auch die Trauer sich wieder wandeln. Es kommt immer wieder eine Zeit der Freude und eine Zeit der Tränen, so, wie der Himmel es sich für jeden einzelnen von euch denkt. Bedenkt, wenn die Freude euer Gast ist, steht das Leid schon vor der Tèr und wartet auf die nächste Gelegenheit seines Einlasses, aber vergesst nicht, umgekehrt ist es gleichermassen.  Ihr werdet lachen, ihr werdet lieben und ihr werdet weinen und ihr werdet hassen, ihr werdet voller Frohsinn tanzen wie ein Schmetterling und ihr werdet mit gebrochenen Flügeln zu Boden fallen und stumm sein vor Sorgen und an einem Platz verharren, um gedankenverloren in den düsteren Tag hinaus zu starren. Und wisset, es kann nur einen Regenbogen geben, wenn zuvor ein heftiger Regen war. Achtet auf meine Worte, erinnert euch an mich und glaubt daran, es kommt eine Zeit, da wird der Regen all Euren Kummer wegwaschen und der Strom eurer Tränen wird im Boden der Hoffnung und des Trostes versiegen.
 
Ihr werdet einen Regenbogen sehen, so strahlend und leuchtend, wie ihr noch nie zuvor einen Regenbogen gesehen habt, einen Regenbogen, so schillernd bunt, dass er euer Herz mit Hoffnung und Freuden füllt. Flügel werden euch wieder wachsen und ihr werdet hinaufschweben zu den Wolken des Friedens und der Freiheit. Und ihr werdet auch sehen, dass sich der Regenbogen als Zeichen des Glücks und der Hoffnung immer wieder über euch spannt und euch die Sonne in eure Herzen zurück bringt, egal, wie dunkel die Zeit zuvor auch war. Bedenkt, der Regenbogen ist das Zeichen einer Zeit unter der Sonne, denn er erscheint, wenn der Regen vorbei ist.
Was immer auch geschieht, hadert nicht mit dem Lauf des Lebens, nehmt an, was der Himmel für euch vorgesehen hat, denn es ist alles nur für diese eine kurze Zeit, die euch gegeben und die euch in ihrem Wandel mit sich trägt. Geht euren Weg mit Gott und achtet nicht auf das Böse, das euch immer wieder umgibt, welches immer wieder versucht, euch vom Pfade der Tugend abzubringen und eure kostbare Zeit zu rauben und euch um diese zu betrügen. Folgt eurem Herzen und tragt die Liebe darin, denn wer Liebe im Herzen trägt braucht keine Waffen für den Frieden. Wenn ihr einst am grossen Ziel seit, am Ende eurer Zeit, und von dort einen Blick zurück auf euren gegangenen Weg werft, erkennt ihr die mühsamen Pfade im Tal der Traurigkeit, aber auch die goldenen Brücken die euch immer wieder zu den Hügeln der Glückseligkeit führten. Und ihr werdet erkennen, alles musste so sein, weil der Himmel es genau so für eure Zeit vorgesehen hat.“ Ja, dachte die alte Schildkröte, wie recht doch der Alte hat. „Träumer, sage nur Träumer“, piepste die Amsel aufgebracht zur Schildkröte hinunter blickend.
 
„Was?“ fragte diese, „Was hast du gesagt? Warum sprichst du so leise mein kleiner Freund?“ „ Ach, ich mag das alles nicht hören, ich will davon nichts wissen, ich habe noch mein ganzes Leben vor mir, ich habe Zeit, genügend Zeit, unendlich viel Zeit. Ich habe so viel Zeit, wie ich nur brauche, meine Zeit liegt mir zu Füssen, bin doch noch jung!“ entgegnete die Amsel protestierend. „ Meinst du das im Ernst? Dann hast du nichts verstanden, was der Alte den Jungen Menschen mit auf den Weg gegeben hat“, resignierte die Schildkröte ein wenig verärgert. „Weisst du, ich bin inzwischen über einhundert Jahre alt, ich weiss haargenau, wovon der Alte gesprochen hat. Auch ich bin durch viele Héhen und Tiefen gegangen, schau nur meinen dicken Panzer an, die Zeit hat ihn mir geformt. Und überhaupt, an der Zeit selbst lässt sich wirklich nichts messen, aber sie hinterlässt Erfahrungen, Lehren, eben Weisheit. Und die wichtigste Erfahrung ist für mich, seine eigene Zeit zu leben und nicht den geringsten Teil davon zu verschenken, denn niemand weiss wirklich, wieviel Zeit er hat und wieviel ihm davon noch bleibt.“ „Eigentlich habt ihr ja alle recht, aber das ist so gemein, es tut mir weh, darüber nachzudenken, ich will davon einfach nichts wissen“ schrie die Amsel trotzig. „Warum wird man geboren, wenn man keine Zeit hat?“ richtete sie sich nun mit traurigen Augen wieder an die Schildkröte, „ich verstehe das einfach nicht, warum und wofür lebe ich?“ „ Das ist es doch, du wirst geboren, um eine Zeit zu leben, um diese Zeit WIRKLICH zu leben und nicht um diese wertvolle Zeit für unnütze Dinge zu vergeuden. Genau das ist es doch, was der Alte versucht, den jungen Menschen auf der Bank klar zu machen. Die Menschen rechnen immer alles in Zeit um, ihnen ist so wichtig, zu welcher Zeit sie an welchem Ort sind, was sie zu welcher Zeit, wann und wie tun. Dabei wissen sie nicht einmal, ob ihre Zeit überhaupt ausreicht, damit ihre Rechnungen aufgehen, ob sie ihr Ziel erreichen, ob sie noch alles, was sie planen ausführen können. Sie sollten versuchen hier und jetzt und heute zu leben, denn morgen kann es dafür zu spät sein! Ach, was sage ich, morgen... nein, es kan im nächsten Moment schon zu spät für alles sein, im nächsten Moment kann die Zeit zu Ende sein! Wer weiss das schon?“; belehrte die alte Schildkröte die Amsel noch einmal geduldig. Die Amsel steckte ihr Köpfchen trotzig unter den linken Flügel und piespste leise vor sich hin. Die Schildkröte verstand sie trotz allem und wusste auch ohne weitere Worte, dass die Amsel sich ihrem eigenen Herz zuwendete, um alles zu überdenken und um zu hören, wie ihr Herz zu ihr selbst sprach. Eine Weile später guckte die Amsel wieder unter ihrem Fittich hervor. „ Weisst du was, liebe Schildkröte, ich glaube, du hast Recht, nur die Menschen leben nach Zeit. Sie müssen immer alles nach ihrem Zeitplan regeln. Bei uns in der Tierwelt gibt es doch gar keinen Zeitplan, bei uns wird der Lauf des Lebens vom Sonnenaufgang und vom Sonnenuntergang und von den Jahreszeiten bestimmt. Ach, was bedeutet da schon Zeit? Wir machen uns weniger Sorgen, weil wir ohne feste Zeitpläne leben, wir haben alle Zeit der Welt, nehmen alles so, wie von Gott gegeben. Wir sind glücklich, säen nicht und ernten doch und leben friedvoller, weil wir nicht so hetzen müssen. Oh ja, ich habe wohl verstanden und ich will und werde fliegen, fliegen und abermals fliegen und meine Flüge noch mehr geniessen denn je zuvor. Meine Zeit will ich sinnvoll nutzen!“
 
„Endlich hast du kapiert“, murrte die Schildkröte. Ein leichter Windzug über dem Kopf der Alten, liess sie wissen, dass die Amsel sich längst wieder auf und davon gemacht hatte. Sie blieb allein zurück, aber da waren ja noch das junge Päärchen und der alte Mann, so ganz alleine war sie ja nicht! Doch als sie zur Bank hinauf schaute, sah sie, dass diese inzwischen einsam und verlassen im letzten Sonnenlicht dieses Nachmittages da stand. Abgelenkt durch das Gespräch mit der Amsel, hatte sie gar nicht bemerkt, das der alte Mann und das junge Päärchen sich auf ihren Weg, wohin auch immer, gemacht hatten. Die Schildkröte war jetzt zu müde, um noch länger nach zu denken. Wer weiss, dachte sie dennoch, vielleicht ist morgen auch noch ein Tag, vielleicht habe ich morgen noch ein wenig Zeit, doch nun werde ich erst einmal die Nacht geniessen. Ja wohl, ich geniesse die Nacht, denn auch die dunkelste Nacht dauert nur eine Zeit, denn irgendwann muss auch die dunkelste Nacht dem Licht des neuen Morgens weichen und eine neue Zeit bricht herein. Und es gibt immer wieder Nächte, die auch ihre schönen Zeiten haben und die schönsten Sterne leuchten ganz besonders in der dunkelsten Nacht...

In diesem Sinne

herzlichst Merlin

 

 

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